Artikel von Ben Fayot erschienen in 2 Teilen im Tageblatt vom 2. und 3. Dezember 2014
Die Luxemburger Politik hat große Ehrfurcht vor ihrem Wahlsystem, als ob es gottgegeben wäre. [1]
Denn obschon so manche Mängel des Systems gesehen und angeprangert werden, ist die Hürde der 2/3 Mehrheit zu groß, um in der Politik Begeisterung für irgendeine Reform hervorzurufen.
Das soll und kann aber nicht verhindern, es kritisch zu hinterfragen. Denn ein Wahlsystem hat grundlegende Folgen für die Politik.
Der Soziologe Fernand Fehlen hat in zwei vor kurzem erschienen FORUM-Beiträgen einige dieser Folgen beschrieben [2]. So ist die Sitzverteilung besonders für kleine Parteien ungerecht. Die Erneuerung des politischen Personals und die Gleichstellung der Frauen geschieht nur schleppend. Politiker zögern mit Reformen, aus Angst vor einer persönlichen Abstrafung.
Ein Majorz mit Listen
Das heutige Wahlsystem stammt aus dem Jahre 1919. Die Väter der Verfassung vom 15. Mai 1919 gaben sich alle erdenkliche Mühe, das alte Wahlsystem aus dem 19. Jahrhundert weit gehend bestehen zu lassen. Sie hatten ein Jahrhundert lang davon profitiert, und obschon Revolution angesagt war blieb im Wahlsystem ziemlich viel beim alten. Zwar wurde ein Listenproporz eingeführt, das als ein modernes, der neuen Nachkriegsdemokratie angepasstes System auftrat. In Wirklichkeit blieb es ein verkapptes Majorz mit der Ausnahme, dass aus den Kantonen Bezirke und aus Einzelkämpfern Listen wurden.
Das alte Wahlsystem war ein Majorz in zwei Wahlgängen, mit dem „Vorteil“, dass im ersten Wahlgang kein Kandidat so richtig mit der politischen Sprache herausrücken musste und im zweiten so viele Gemeinsamkeiten wie möglich gesucht wurden, um gewählt zu werden.
Aus den Vorarbeiten der „Constituante“ von 1918-1919 ist herauszulesen: wenn man schon das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer einführen musste, sollte vor allem verhindert werden, dass starke Parteien entstanden, mit klaren politischen Alternativen und Politikern, die dazu standen, ohne Klientelismus und Korporatismus. Politische Schwankungen sollten so weit wie möglich abgeschwächt werden, deshalb wurden jeweils nur zwei von vier Bezirken (bis 1954) erneuert, immer ein konservativer Landbezirk mit einem fortschrittlichen Stadt- und Industriebezirk zusammen. Änderungen am System sollten so weit wie möglich verhindert werden, daher wurde es in der Verfassung festgeschrieben.
Im 19. Jahrhundert hatte Luxemburg unter einem Notabelnsystem gelebt, das die Vorherrschaft der Altliberalen begründete. Im 20.Jahrhundert erlebte das Großherzogtum mit fast demselben System die Dominanz der katholischen Partei.
Verkappte Kantonswahl
Bis 1919 wurden die Abgeordneten in jedem der 12 Kantone gewählt. 1919 wurden aus diesen 12 vier Wahlbezirke gestrickt, zwei kleinere und zwei kleinste, wie F.Fehlen sagt. Dies war im Vergleich zur vorhergehenden Kantonswahl ein Fortschritt, allerdings nur ein kleiner, denn er festigte weiterhin die Zersplitterung des Landes in gegensätzliche Interessengruppen. Diese Einteilung des Landes ermöglicht bis heute, in jedem Bezirk regionale Notabeln in die Kammer zu wählen, und somit regionale Interessen vor die nationalen zu stellen obschon laut Verfassung der Abgeordnete eigentlich das ganze Land vertritt.
Damit wurden lange Zeit die Gegensätze zwischen Ackerbau und Industrie, zwischen der Hauptstadt und dem industriellen Süden, zwischen den Interessen des Ostens und jenen des Westens angeheizt und verschärft. Und daran zerbrach fast die Unabhängigkeit und die wirtschaftliche Grundlage des Landes im ersten Weltkrieg.
Heutzutage stellen weder Kantone noch Bezirke eine wirtschaftliche und soziale Realität dar. Der Norden ist nicht mehr rein landwirtschaftlich, der Süden nicht mehr rein industriell. Die Mobilität innerhalb des Landes nimmt zu, die Verstädterung ebenfalls.
Die Bürger selbst verstehen den Sinn dieser Aufteilung des Landes nicht mehr. Wer von der Hauptstadt (zentrum) nach Nordwesten fährt, kommt an Bridel und Kopstal vorbei (Südbezirk), dann durch Tüntingen (Zentrum), weiter nach Saeul (Nordbezirk), und nichts unterscheidet eigentlich diese Ortschaften und ihre Einwohner im täglichen Leben. Jeder Einwohner des Landes lebt heute im ganzen Land: er wohnt vielleicht im Nordbezirk, arbeitet mit großer Sicherheit im Zentrum, hat Freunde an der Mosel, spielt Fußball im Süden.
Die Einwohner haben alle dieselben Probleme, werden aber von Politikern vertreten, die sich elektoral gerne als Interessenvertreter einer bestimmten Gegend profilieren wollen, was eigentlich die Aufgabe lokaler bezw. regionaler Politiker ist, aber nicht der nationalen. Bei Nationalwahlen wollen die Bürger sich zu der nationalen Politik äußern, nicht zu einer wie auch immer begründeten regionalen oder lokalen.
Der heute noch irgendwie relevante Unterschied zwischen Norden und Osten, einerseits, Zentrum und Süden, andrerseits, besteht im Gefälle zwischen Wählern und Einwohnern. Daher hat vor kurzem ein ADR-Abgeordneter eine Umverteilung der Parlamentssitze nach der Wählerzahl verlangt, um den bevölkerungsmäßig am stärksten gewachsenen Süden und Zentrum Sitze für den Norden und den Osten abzujagen. Eigentlich eine Absurdität in einem Land, das sich bemüht, alle Einwohner, ob Wähler oder nicht, in die nationale Gemeinschaft einzubinden.
Nun sind die Wahlbezirke in der Verfassung verankert, daher, so die Politik, wird es wohl unmöglich sein, aus dem kleinen Land irgendwann einen einzigen Wahlbezirk zu machen. Die Grünen sind klar dafür, auch in anderen Parteien gibt es Sympathie für diesen Fortschritt. Ob man aber dafür eine 2/3 Mehrheit finden wird, bezweifelt die Politik angesichts der stark ausgeprägten Regionalität der heutigen Volksvertreter.
Wenn man denn keine Mehrheit für einen einzigen Bezirk findet, könnten wenigstens die bestehenden Bezirke über per Gesetz mögliche Umänderungen der Kantone angepasst werden, heißt es weiter. Eine leichte Hoffnung keimt auf, dass über den Weg der Gemeindefusionen mit der Zeit eine andere Gemeindelandschaft entstehen wird, durch die Veränderungen an den bestehenden Wahlbezirken möglich werden.
Panachage, des Wählers liebstes Kind
Panaschieren heißt, dass der Wähler sein Stimmenkonto über alle Listen verteilen kann, sich also für eine Personenwahl anstatt für eine politische entschließt. Innerhalb einer Liste kann der Wähler die ganze Liste („de Rondel schwärzen“) oder alle Stimmen auf eine Liste verteilen und somit politisch wählen. Wählt er nach Belieben nur einige Kandidaten auf irgendwelchen Listen, verliert diese Wahl jede politische Aussagekraft. Das politisch begründete Listensystem wird durch das Panaschieren ausgehöhlt und ad absurdum geführt. Und es wird mit den Jahrzehnten immer beliebter, sogar wenn es 2013 etwas zurückgegangen ist.
Der Wähler will das Panaschieren absolut nicht missen. Das gängige Argument heißt, nicht die Parteien, sondern die Wähler sollen die Personen bestimmen, die sie in der Kammer vertreten. Das schlagende Argument gegen das reine Listenproporz: würde man die Listenplätze von den Parteien bestimmen lassen, gäbe es „Rapp a Klapp“ hinter verschlossenen Türen.
Es wird allerdings dabei vergessen, dass dort wo die Mandate über Listenplätze vergeben werden, die Parteien stärker sind, ihr Personal erneuern, verjüngen und verweiblichen können, was in unserem System nicht möglich ist. Man kann noch so ausgefeilte Quotenregelungen einführen; wenn der einzelne Wähler nicht will, verfehlt auch die schönste Quote ihren Zweck im Luxemburger System.
Selten wird bei der Diskussion über das Panaschieren die Schwäche der Luxemburger Parteien und ihres Personals erwähnt, eine direkte Folge des Wahlsystems, das den Parteien die Entscheidungen über ihr politisches Personal abnimmt. Sicher gefällt vielen dies angesichts der gängigen Stammtischkritik an den Parteien, aber damit ist die Frage nach starken personell gut bestückten Parteien nicht gelöst.
Niemand braucht sich dann zu wundern, dass die Zahl der Abgeordneten, die sich in schwierigen, aber zunehmend wichtigen Bereichen auskennen, sehr gering ist. Es wird bedauert, dass die Abgeordnetenkammer sich nicht intensiver mit Europafragen abgibt, aber wer soll sich dafür hergeben, wenn das Lokale, das Regionale und das Nationale einfacher und elektoral einträglicher ist? Eine andere Folge ist, dass die Parteien Technokraten ohne politische Vision in die Regierung schicken, Stars aus allen möglichen Bereichen als Kandidaten anheuern und ihre eigentliche politische Diskussions- und Denkarbeit vernachlässigen, um neues politisches Personal heranzuziehen. Oder dass die im Parlament vertretenen Parteien die Kraft nicht mehr finden, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen, sondern sich auf Umfragen in Form von Referenden verlassen, um Lösungen zu finden. Alles hängt zusammen.
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Wie müsste das System sich ändern? Ein einziger Wahlbezirk drängt sich auf. Um von der Personenwahl zur politischen zu kommen, müsste das Panaschieren zwischen den Listen abgeschafft werden. Vorzugsstimmen innerhalb einer Liste könnten bestehen bleiben. Besser noch wäre es, einen Teil (z.B. 2/3 der Sitze) über den Weg des Listenproporz zu vergeben, und 1/3 über den Weg von Vorzugsstimmen innerhalb einer jeden Liste. Eine andere Möglichkeit bestände darin, dieses Drittel (also 20 Sitze) über Direktstimmen in mehreren kleineren Bezirken zu vergeben, um zu verhindern, dass weniger bevölkerte Gegenden gegenüber den Städten benachteiligt werden.
Ob die Politik sich im Zusammenhang mit den kommenden Referenden an eine Diskussion über das Wahlsystem wagen wird, ist nicht wirklich zu erwarten. Auch Fernand Fehlen, der scharfsinnige Beobachter des Luxemburger Wahlsystems, wirft eigentlich das Handtuch ehe die Diskussion so recht beginnt. Er begnügt sich mit einer arithmetischen Verbesserung nach dem Konzept des Augsburger Mathematikprofessors Fiederich Pukelsheim, um die Benachteiligung der kleinen Parteien bei der Sitzverteilung in den einzelnen Bezirken in etwa zu bereinigen.
Dass es aber fast hundert Jahre nach der Einführung des Wahlsystems nicht möglich bezw. gewünscht ist, in einem modernen Land, das sich so enorm gewandelt hat, über grundlegende Fragen der Demokratie nachzudenken und Anpassungen vorzunehmen, ist in höchstem Masse erstaunlich und eigentlich ein Armutszeugnis für das Land und alle, die in diesem Land Politik gestalten!
[1] Der folgende Artikel beruht auf einem von der Fondation Robert Krieps organisierten Rundtischgespräch am 6.11.2014 über das Wahlsystem in Luxemburg. Fernand Fehlen, von der Uni Luxemburg, führte in das Thema ein. Unter Moderator Marc Limpach diskutierten die Abgeordneten Claude Adam (Grüne), Alex Bodry (LSAP), Anne Brasseur (DP) und Paul-Henri Meyers (CSV). Eine Zusammenfassung der Diskussion und der Mitschnitt befindet sich auf www.fondationrobertkrieps.lu
[2] Fernand Fehlen, Für eine Wahlrechtsreform, FORUM 334, 11.2013; derselbe, Wahlsystem und politische Kultur, FORUM 332, 09.2013